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Cochlea-Implantate und ihre manchmal überraschenden Folgen

Interview mit Herrn Prof. Joachim Müller, Leiter des CI-Teams an der HNO-Univ.-Klinik Würzburg und einer der weltweit führenden CI-Spezialisten.

MED-EL: Herr Prof. Müller, Sie sind Leiter des CI-Teams an der HNO-Uni-Klinik Würzburg. Wann sind Sie zum ersten Mal dem Thema „Cochlea-Implantat“ begegnet?

Prof. Müller: Das war 1988, als Prof. Helms hier in Würzburg einen Patienten vorgestellt bekam. Dieser war taub und sollte mit einer Innenohrelektrode versorgt werden; das hatte Prof. Helms ja in Mainz schon gemacht. In der ärztlichen Frühbesprechung fragte Prof. Helms am nächsten Tag: „hier ist ein Patient, der ein CI bekommen soll, wer möchte sich darum kümmern?“ Ich war damals „Privatassistent“. Bei der anschließenden Visite hieß es dann: „Herr Dr. Müller, übernehmen Sie das“. Danach begann ich, mich mit dem Thema Cochlea Implantat zu beschäftigen. Anschließend haben wir die Literatur studiert, uns auf Kongressen umgehört und verschiedene Firmen besucht.
Unter Einbeziehung von Physiker Dr. Schön entschied Prof. Helms, dass wir mit MED-EL und dem Institut für Angewandte Physik von Prof. Dr. Hochmair in Innsbruck zusammenarbeiten wollen. Und so wurde es meine Aufgabe, die Implantation für den ersten Würzburger Patienten zu organisieren. Niemand konntesich damals vorstellen, welch eine Erfolgsgeschichte das Thema „Cochlea-Implantat“ einmal werden würde.
Müller

MED-EL: Und wann implantierten Sie Ihr erstes CI?

Prof. Müller: Das war am 5.12.1994

MED-EL: Wissen Sie in etwa, wie viele Implantationen in Würzburg insgesamt durchgeführt wurden?

Prof. Müller: Beim tausendsten Implantat habe ich aufgehört zu zählen. Einschließlich der von der HNO-Klinik Würzburg auch im Ausland durchgeführten Implantationen dürften es inzwischen an die 1500 Implantate sein. Sehr erfreulich dabei ist, dass es niemals zu schwerwiegenden Komplikationen kam. Dies hängt auch damit zusammen, dass die bewährten, soliden Methoden der modernen Mittelohrchirurgie („Helms´sche Schule“) angewendet werden und Prof. Helms sein Wissen und seine Erfahrung an seine Schüler weitergegeben hat.

MED-EL: Wenn Sie zurückdenken, welche Erwartungen wurden damals seitens der Patienten gehegt? – Und welche Erwartungen an das CI hatten Sie?

Prof. Müller: Zu erwarten war damals eine Verbesserung der Kommunikation durch Unterstützung des Lippenablesens. Wenn dann einzelne Worte frei verstanden wurden, war dies schon eine Sensation. Diese Erwartungen waren natürlich den technischen Möglichkeiten der Zeit angepasst. Wenn beispielsweise Ende der achtziger Jahre im Sprachverständnistest Ergebnisse von 20 bis 30 Prozent erzielt wurden, dann galt das als sehr gut. Heute ist das Telefonieren mit CI für Viele im Bereich des Möglichen und wird von vielen Patienten auch erwartet.

MED-EL: Hat sich seit damals etwas an den Operationsmethoden geändert?

Prof. Müller: In Würzburg, der „Würzburger Schule“, wenn man es so nennen will, folgend hat es eigentlich keine tiefgreifenden Veränderungen der bewährten Methoden gegeben. Die Grundlagen der Würzburger Schule stützen sich auf solide Prinzipien der rekonstruktiven Mittelohrchirurgie, die Prof. Helms in mehreren Lehrbüchern im Detail dargelegt hat. Die Grundprinzipien gelten gleichermaßen: man orientiert sich an sog. „anatomischen Landmarken“ und strukturiert die Operation sinnvoll in Teilschritten, so dass sich nacheinander die anatomisch wichtigen Strukturen wie Blutleiter, Gleichgewichtsorgan, Gesichtsnerv, Geschmacksnerv und Cochlea nacheinander vom Operateur dargestellt entwickeln.

MED-EL: Wie risikoreich ist eine OP?

Prof. Müller: Nichts im Leben ist ohne potentielles Risiko. Wichtig ist, dass man als Operateur die Anatomie und mögliche Variationen kennt. Wenn bei der Operation alle Strukturen gut erkennbar dargestellt sind, dann können auch Komplikationen vermieden werden. Schwierig wird es (schmunzelnd), wenn, wie es mir im Ausland schon passiert ist, plötzlich bei der Operation der Strom ausfällt.
Die Aussage, wie vom Medizinischen Dienst der gesetzlichen Krankenkassen z.B. auf der Jahrestagung des Bayrischen-Cochlea-Implant-Verbandes in Würzburg gemacht, die Implantation sei mit zu großen Risiken behaftet und deshalb solle eine bilaterale Versorgung unterbleiben, ist so nicht haltbar und trifft nicht zu. Die Operation ist an sich ein sehr risikoarmer Eingriff, der eine solche Argumentation nicht rechtfertigt. Zwar sind in der Literatur auch Gesichtsnervenlähmungen als Folge der Operation beschrieben, in Würzburg hat sich dieses Risiko aber bislang bei rund 1500 Operationen durch „geübte Hände“ glücklicherweise nicht verwirklicht.
Dank einer sehr guten Kooperation mit den Anästhesisten und der Kinderklinik der Universität können auch ganz kleine Kindern vor dem ersten Lebensjahr, ca. ab dem 4. Lebensmonat, risikoarm versorgt werden. Gemeinsam erarbeiten wir Konzepte, wie der operative Eingriff, die Narkose und die Operation für die Kinder bestmöglich durchgeführt werden können. So können wir bei den Voruntersuchungen, wie Kernspinn- oder Computertomographie, auf eine Vollnarkose verzichten. Hier werden die Kinder in eine Art künstlichen Schlaf versetzt, der für sie weniger belastend ist.

MED-EL: Welche Voruntersuchungen sind in Würzburg Standard und welche Untersuchungen sind nur manchmal nötig – wie Promontorium-Test, Audiogramm, MRT oder CT?

Prof. Müller: In der Regel werden alle genannten Untersuchungen durchgeführt, solange keine medizinischen Gründe dagegensprechen. Der Promontorium-Test, der die Funktionstüchtigkeit des Hörnervs testet, wird in der Regel ohne Durchstechen des Trommelfells durchgeführt – dies ist für den Patienten komfortabler.

MED-EL: Für die Patienten ist es wichtig, im Vorfeld gut informiert zu sein. Von vielen CI-Trägern, z.B. in den Treffen der Selbsthilfegruppen, habe ich erfahren, dass ihre Fragen in Würzburg zufriedenstellend und fundiert beantwortet wurden. Welche Fragen und auch Bedenken hören Sie am häufigsten?

Prof. Müller: Das ist sehr unterschiedlich und lässt sich pauschal nicht beantworten. Jeder hat Fragen, die sich aus seinen spezifischen Lebensumständen und Hobbys ergeben. Neben allgemeinen Fragen zur Operation, den Chancen und Risiken, interessieren oft sehr individuelle Fragen, z.B., ob der Reiterhelm nach der Implantation noch passt. Es gibt auch Patienten, denen es wichtig ist, nur zu einer bestimmtem Mondphase operiert zu werden. Dann wird der OP-Termin eben entsprechend geplant.

MED-EL: Wie lange dauert eine OP durchschnittlich?

Prof. Müller: Das hängt von den individuellen anatomischen Gegebenheiten ab. Zwischen 47 Minuten und 4 Stunden. Es gab einmal eine Auswertung, die eine durchschnittliche Dauer von etwa einer Stunde und 15 Minuten aufzeigte. Die OP-Zeit allein ist aber für mich kein Qualitätsmaßstab. Die Qualität bestimmt sich dadurch, dass sorgfältig operiert wird und dass nach der OP keine schwerwiegenden Komplikationen auftreten, z.B. dass der Gesichtsnerv intakt ist. Außerdem ist es wichtig, dass die Elektrode tief genug in die Cochlea, bis in die Spitze, eingeführt ist und dass das Implantat gut funktioniert. Natürlich sollte der Eingriff nicht zu lange dauern.

MED-EL: In einer kurzen Filmsequenz von 1996 ist der erste bilateral, also beidseitig mit CI, versorgte Patient auf einem Stuhl sitzend zu sehen, während Sie hinter ihm stehend Ihre Position von rechts nach links wechseln. Der Patient, er war bei dem Experiment mit einer Augenbinde versehen und konnte Sie nur hören, aber nicht sehen, deutet dabei jeweils in die richtige Richtung, aus der Sie zu hören waren. Waren Sie damals vom Ergebnis überrascht? Was hatten Sie erwartet? Wie kam es zu dieser seinerzeit sicher revolutionären Versorgung mit zwei CIs?

Prof. Müller: Wir haben erwartet, dass es funktioniert. Aber es war schon spannend, und es war Neuland, das wir gemeinsam betraten. Der Patient hatte ursprünglich zwei Hörgeräte getragen, so war es nur logisch, dass er auch wieder beidseitig mit CI hören wollte. Die Idee dazu kam von ihm selbst. Er hatte bereits mit seinem ersten Combi40-Implantat sehr gut gehört und konnte damit seinem Beruf weiter nachgehen. Gemeinsam mit Herrn Dr. Schön haben wir die Konsequenzen diskutiert und dann hat er sich dazu entschieden, dass wir ihm ein zweites Combi40-Implantat auf der anderen Seite einsetzen. Zur Überlegung, was wäre, wenn es nicht funktioniert, meinte er: „Sie haben mir mit dem ersten CI soviel geholfen, dass ich Vertrauen zu Ihnen habe. Und sollte es nicht funktionieren, ist es auch gut, dann habe ich eben meinen Beitrag zur Wissenschaft geleistet.“
Auf das uns so entgegengebrachte Vertrauen waren wir schon auch ein wenig stolz.

MED-EL: Eine Anekdote zum Schluss?

Prof. Müller: Ja, da gibt es einige Geschichten, die im Gedächtnis bleiben. So hat ein Mädchen, das vor Jahren implantiert wurde, einen Lesewettbewerb in der Schule gewonnen, und ein Patient mit zwei CIs wurde zum Faschingsprinz gewählt. Oder die Geschichte eines Patienten, der im Januar zu mir kam und im Mai bei der Hochzeit seines Sohnes das „Ja-Wort“ hören wollte. Er erhielt noch im Januar ein CI. Beim Anpassungstermin nach der Hochzeit erzählte er mir, dass er nicht nur das „Ja-Wort“, sondern auch die halbe Predigt verstanden habe. Das sind schon Höhepunkte, die zeigen, wie wichtig Kommunikation im Leben der Menschen ist. Und wir versuchen, genau das zu ermöglichen und unsere Patienten auf dem Weg dorthin zu begleiten.
Eine gute Geschichte ist auch noch die eines älteren Patienten, der sehr schlecht mit seinen Hörgeräten gehört hatte und ein CI bekam. Bei einem Anpassungstermin nach drei Monaten kamen wir ins Gespräch und da meinte er: „Das CI ist wirklich Klasse, seit der Aktivierung habe ich mein Testament schon dreimal geändert.“

MED-EL: Herr Prof. Müller, ich danke für das Gespräch.

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